50  JAHRE  MUSIKKULTUR  AM  WELFENHOF  HANNOVER   1 6 6 5  --  1 7 1 4

E i n  Ü b e r b l i c k

Zwischen 1665 und 1714 kulminierte die barocke Musikpflege  der hannoverschen Welfen als Kernstück ihrer höfischen kulturellen Aktivität. Diese Musikpflege verteilte sich örtlich und funktionell auf vier Ebenen: (1) auf die Hofkapelle des alten Leineschlosses, (2) auf das neue Hofopernhaus am südlichen Ende des Leineschlosses (auf dem Grundstück des heutigen Landtages),  (3) auf das Schloss und den Garten der Sommerresidenz Herrenhausen und (4) auf den Bereich der privaten Musikpraxis des Hofes.

Der  europäische – genauer: romanische – Bezug prägte die welfische Hofmusik von Anfang an. Unter dem konvertierten Herzog Johann Friedrich (reg.1665-1679) erklang in den Gottesdiensten der Hofkapelle im Leineschloss das Beste und Hochrangigste, was Italien an lateinischer Kirchenmusik zu jener Zeit zu bieten hatte. Der aus Venedig stammende Hofkapellmeister des Herzogs, Antonio Sartorio (später Vizekapellmeister an San Marco), besorgte die Musikalien und zum Teil auch die Sänger aus Italien. Die erhaltenen Reste des aufgeführten kirchenmusikalischen Repertoires dokumentieren das hohe kompositorische Niveau dieser Musikpflege, das auch noch für den kommenden musikalischen Stilwandel am Hof als Fundierung dienen konnte. Die Hochkultur des italienischen  mittleren  Barock  und  deren  schöpferische  Adaption  in  Süddeutschland  war  nicht  zuletzt  auch  der Mutterboden für die Kunst Agostino Steffanis (s. unten).

Der ab 1680 herrschende protestantische Herzog (und spätere Kurfürst) Ernst August (+1698) gestaltete die Hofmusik um und gab ihr eine französische Prägung nach dem Vorbild des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV., was eine Verschiebung zum Profanen und Instrumentalen mit sich brachte, unter Einbezug des Bühnenballets und später auch der Oper. Die angestellten französischen Instrumentalisten brachten unter anderem die hierzulande noch nicht bekannten neuartigen, klanglich mischfähigen Oboen mit. 

Die französische Stilorientierung strebte gerade in Hannover immer wieder nach ihrem musikalischen Gegenpol, dem Italienischen. So verbanden sich hier erstmalig die charakterlich gegensätzlichen musikalischen Hauptströmungen des damaligen Europa. Die Fusion war von größter Tragweite, sie führte letztlich zur Ausbildung der „deutschen“ Tonsprache des Spätbarock (J. S. Bach, G. Ph.Telemann). Hannover wurde die veritable, schon bald weit gerühmte Werkstatt europäischer Musik.

Zentrale Figur und Motor der „hannoverschen Stilsynthese“ war der aus Venetien stammende, in München, Rom und Paris geschulte Komponist Agostino Steffani (1654-1728), eine der vielseitigsten Gestalten und namhaftesten Tonsetzer des Spätbarock. Vermutlich durch die Vermittlung von Leibniz im Jahre 1688 zum hannoverschen Hofkapellmeister ernannt, schrieb Steffani für die Eröffnung des Hofopernhauses (Januar 1689) die  glänzende Festoper „Henrico Leone“ (Heinrich der Löwe) und schuf in den darauf folgenden Jahren noch sieben weitere Opernwerke für das neue, in ganz Europa bewunderte Haus.

Dem geistlichen Stand angehörend und ab 1707 im Bischofsrang, war Agostino Steffani nicht zuletzt auf dem Felde der europaweiten Diplomatie tätig. Durch seine Verhandlungen mit den katholischen Kurfürsten und am Kaiserhof in Wien hatte er maßgeblichen Anteil an der Verleihung der Kurwürde für Herzog Ernst August von Hannover. Nach hohen staatsmännischen Ämtern in Brüssel und Düsseldorf folgte die spektakulärste diplomatische Mission des Geistlichen im Jahre 1708, als er zur Beilegung des spanischen Erbfolgekonfliktes zwischen Papst und Kaiser vermittelte. Kurz darauf wurde Steffani zum "Apostolischen Vikar des Nordens", mit Sitz in Hannover, ernannt. -- Zusammen mit G.W. Leibniz und Kurfürstin Sophie dem inneren geistigen Zirkel des Hofes zugehörig, führte Steffani im Jahre 1710 G. F. Händel  nach dessen Ernennung als Hofkapellmeister in Hannover in die Verhältnisse am Hof ein. (Händel verehrte Steffani außerordentlich. Seine hannoverschen Kammerduette  zeigen  klar  den  Einfluss  Steffanis,  später  bekundete  er  vor  allem  durch  zahlreiche  Entlehnungen  seine  Hochachtung  gegenüber  dem  inzwischen verstorbenen Vorbild.)

Im Zeichen der Steffanischen französisch-italienischen Stilsynthese entfaltete sich auch die repräsentative Pflege der Orchester- und Kammermusik, hauptsächlich im Schloss und im Garten in Herrenhausen. Die zumeist französischen musikalischen Mitarbeiter Agostino Steffanis, Konzertmeister und Ballettkomponisten in einer Person, deren Namen der breiten Öffentlichkeit heute nicht mehr geläufig sind (Farinel, Valoix, Venturini), schufen für die Sommerresidenz mit ihren Suiten und Concerti Werke, die den höchsten europäischen Standard um 1700 darstellten und mit ihrer Farbigkeit und Ausdrucksvielfalt heute noch ein elementares Erlebnis bereiten können.

Die private (und halb private) Musikpraxis des Hofes qualifizierte sich vor allem durch die Pflege der Kammerduette für zwei Singstimmen und Basso continuo von Agostino Steffani. Diese groß angelegten, im reinen italienischen Stil geschriebenen Werke -- in zahllosen zeitgenössischen Abschriften in ganz Europa verbreitet -- gelten bis heute als hohe Schule der vokalen Kammermusik und der Kompositionskunst. – Von der Vorliebe für das Blockflötenspiel im fürstlichen Kreis zeugen schließlich die überlieferten Original-Musikalien für dieses ausgereifte, eigentliche Flöteninstrument der damaligen Epoche (das auch in den Opern von Agostino Steffani stets mit charakteristischen Aufgaben bedacht war). Es ist bezeichnend, dass der Stildualismus selbst im privaten Bereich zum Tragen kam: im Gegensatz zu der italienischen Faktur der Kammerduette war das favorisierte Blockflötenrepertoire weitgehend französisch geprägt.

 

Die kulturelle Glanzzeit Hannovers zwischen 1665 und 1714 (dem Jahr, in dem  Kurfürstin Sophie starb und in welchem ihr Sohn Kurfürst Georg Ludwig als George I. den englischen Thron bestieg) war auch die Glanzzeit der Hannoverschen Musikgeschichte. Der europäische Riese Gottfried Wilhelm Leibniz fand am Hofe in Agostino Steffani sein würdiges Pendant.

Lajos  Rovatkay